6. Juni 2024

"Die ABBA-Show ist unglaublich!"

Interview geführt von

Steven Wilson ist Stammgast auf der "High End" in München, einer der größten Messen für audiophiles Equipment weltweit. In diesem Jahr stellt er seine Neuabmischungen in Dolby Atmos vor. Eine Audienz beim musikalischen Tausendsassa aus England.

Mitte Mai in München, es ist Sommer in der Stadt. Im MOC Event Center spürt man davon wenig. In den Konferenzräumen bedecken dunkle Vorhänge die Türen und Fenster. Riesige Lautsprecher türmen sich in den Ecken, ein paar baumeln sogar von der Decke. Die Firma PMC hat diese audiophile Dunkelkammer mit ihren besten Amps ausgestattet, Kostenpunkt: 300.000€.

Es wundert nicht, dass sich Steven Wilson hier pudelwohl fühlt. Der Musiker und Produzent aus Hemel Hempstead ist schon zum zweiten Mal auf der High End in München zu Gast. Diesmal als Botschafter und Connaisseur von Raumklang. Übers ganze Wochenende hinweg stellt er seine Surround-Abmischungen vor. Versucht, die Leute fürs dreidimensionale Hören zu begeistern. Aber statt eines Fachgesprächs über Equipment, redet Steven lieber über seine eigene Musik.

Wir sind hier auf einer Hi-Fi-Messe, die Frage ist also naheliegend: Was ist das bestklingendste Album aller Zeiten für dich?

Oh, wow, da kann ich unmöglich nur eines nennen. Zwei der schönsten Alben aller Zeiten sind "The Colour Of Spring" von Talk Talk und "The Seeds of Love" von Tears For Fears, finde ich. Das sind auch große Einflüsse, wenn ich selbst Musik produziere, wegen dieser wunderschönen Klangpaletten. Ich bin halt ein Kind der Achtziger. Ich finde es bemerkenswert, dass viele Musikliebhaber den Achtzigern eher kritisch gegenüberstehen. Aber ich glaube, ein paar der schönsten Alben stammen aus dieser Zeit.

In vielerlei Hinsicht ist "The Dark Side Of The Moon" aber immer noch der Maßstab in Sachen Hi-Fi. Eines der Themen, über das ich hier rede, sind meine Surround- und Dolby-Atmos-Abmischungen. Viele Menschen sind puristisch und stehen dem Raumklang deswegen skeptisch gegenüber. Dasselbe ist aber auch passiert, als Mono die Norm war und Stereo aufkam. Und "The Dark Side Of The Moon" hat dann wirklich alle umgehauen, weil es gezeigt hat, was in Stereo überhaupt möglich war.

Und welches ist das bestklingendste Werk aus deiner eigenen Diskografie?

"The Harmony Codex", natürlich!

Weswegen bist du darauf besonders stolz?

Es ist das erste Album, bei dem ich gleich zu Beginn den Raumklang im Kopf hatte, von der ersten Note an. Ich wollte damit neue Maßstäbe setzen, was in Surround-Sound und Dolby Atmos möglich ist. Und ich glaube, "The Harmony Codex" ist eine überwältigende klangliche Reise geworden.

"Im nächsten Jahr gehe ich wieder auf Tour"

Und was macht "The Harmony Codex" konzeptuell zu etwas Besonderem für dich?

Dass es zu keinem bestimmten Genre gehört. Es ist einfach Steven-Wilson-Musik. Und ich sage das im vollen Bewusstsein, dass mir das vorher nicht immer geglückt ist. In der Hinsicht bin ich noch dabei, meine eigene kreative Stimme zu finden. Ich wollte immer, dass meine Musik abseits irgendwelcher Genres existiert. Wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt, erkennt man hoffentlich schnell, dass da viel mehr drin steckt als nur Progressive Rock. Ich mag so viel unterschiedliches Zeug, und das hat sich nicht immer gleich gut in meiner Musik manifestiert. Aber auf "The Harmony Codex" ergibt alles einen Sinn, finde ich. Es ist sehr konzeptuell, es ist progressiv, aber gleichzeitig gibt es da so viel mehr: elektronische Musik, Industrial, Singer-Songwriter, Ambient, Sounddesign. Das steckt alles in diesem komplexen Sound.

Beeindruckend finde ich, dass es trotzdem als Einheit funktioniert.

Und ich glaube, das liegt an meiner Erfahrung und meinem Wissen. Ich habe das Selbstvertrauen, dass ich die verschiedensten Sachen miteinander kombinieren kann, ohne dass sie seltsam klingen. Sie klingen einfach nur nach mir. Das hat sich aber erst mit der Zeit entwickelt.

Ich habe neulich mit Michael Spearman gesprochen, dem Drummer von Everything Everything, und er hat mir von geplanten Live-Auftritten mit dir erzählt. Da ging es aber um "The Future Bites", oder?

Ja, genau. Ein paar TV-Auftritte waren geplant, aber das wurde alles wegen der Pandemie abgesagt.

Hast du denn vor, in nächster Zeit zu touren?

Im nächsten Jahr, ja. Vorher mache ich aber tatsächlich noch eine neue Platte. Die Idee ist, bei den Konzerten dann sowohl das ganz neue Material zu spielen, als auch Sachen von "The Harmony Codex" und "The Future Bites". Natürlich würde ich bei den Shows auch gerne was mit Raumklang machen. Aber es ist sehr, sehr schwierig, so etwas Abend für Abend in jeder Location umzusetzen. Ich sage nicht, dass es nicht möglich wäre, aber ich glaube, das würde mein Budget sprengen. Das Touren im herkömmlichen Sinn reizt mich sowieso nicht mehr so richtig. Ich habe ein paar Ideen für einen frischeren Ansatz, was Live-Konzerte angeht, und da bin ich bestimmt nicht der Einzige.

"Man wird zu einem alten Mann, wenn man K.I. ignoriert"

David Gilmour hat ja schon angekündigt, dass er vielleicht eine Avatar-Show machen will, so wie ABBA.

Hast du die ABBA-Show gesehen?

Nein, leider nicht.

Die ist absolut unglaublich! Ich bin sowieso ein großer ABBA-Fan, und ich habe schon beim ersten Song geheult. Wenn du es siehst, wirst du auch weinen, garantiert! Schau mal, wir leben in einer spannenden Zeit, musikhistorisch gesehen. So viele Künstler, die die klassische Rock- und Pop-Musik geprägt haben, treten inzwischen ab. Manche tun es, weil sie zu alt sind, andere sterben leider. Das wird in den nächsten zehn, zwanzig Jahren offensichtlich noch weitergehen. Deswegen ist die ABBA-Show so toll, weil sie die Magie des Originals einfängt.

Natürlich gibt es Leute, die sagen werden, das sei keine echte Live-Show. Klar haben sie da recht. Aber man kommt damit schon sehr nahe ran. Man kann die Zeit halt nicht aufhalten. All diese Dinge kommen gerade auf uns zu, Avatar-Konzerte der größten Künstler und Raumklang. Meine Philosophie ist jedenfalls, diesen Dingen offen zu begegnen. Habe ich mit K.I. ja im vergangenen Jahr auch gemacht.
Mit dem Weihnachts-Song. Denn was bringt es, so zu tun, als würde K.I. nicht existieren? Diese Technologie verschwindet ja nicht mehr. Man wird nur zu einem alten Mann, der die Wolken anschreit, wenn man sie ignoriert. Und die jungen Leute kümmert es eh nicht, was Typen wie ich erzählen.

Lass uns noch über dein nächstes Album reden. Du hast neulich in einem Podcast erzählt, dass es nur aus zwei Longtracks besteht. Stimmt das?

Ja! Ich kann nicht glauben, dass du das schon mitbekommen hast. Musikalisch geht’s in die Richtung von "Staircase", dem letzten Song von "The Harmony Codex", dieser Idee von einer musikalischen Reise. Ich bin mit Platten wie "Tubular Bells" von Mike Oldfield aufgewachsen und habe so was selbst noch nie gemacht. Und jedes Mal, wenn ich ein neues Projekt in Angriff nehme, möchte ich auch etwas Neues ausprobieren.

Wie lang wird das Album denn ungefähr?

Eine Seite ist 23 Minuten, die andere circa 18. Also so 41, 42 Minuten, schön kompakt.

Klasse, ich freue mich auf jeden Fall schon drauf. Vielen Dank für das Gespräch, Steven.

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